Alte Sorten

Wie regional sind eigentlich "alte Sorten"?

Bei der Beantwortung der Frage nach der Vielfalt alter Sorten haben wir erfahren, dass man richtiger von samenfesten bzw. vegetativ vermehrten Sorten alter, bäuerlicher oder traditioneller Zucht sprechen sollte, die im Erwerbs-Gemüsebau eine Rolle gespielt haben, die dort weiterhin von Bedeutung sind oder die für den Eigenbedarf kultiviert werden.

Da der Begriff aber nun einmal in der Welt ist und gern unterschiedlich interpretiert wird, möchten wir ihn zumindest hier nach unserem Verständnis und gemäß der Definition verwenden, auf die wir uns mit einigen NGOs und mit Pflanzenzüchtern geeinigt haben, die keine modernen Techniken anwenden, nicht einmal die Hybridzucht in ihrem Programm haben. Da wir bisher weder Kommentare noch Änderungswünsche von Euch erhalten haben, auch keine Rückfragen kamen, geben wir an dieser Stelle unsere „Definition“ noch einmal im Wortlaut wieder:

„Alt“ und „Sorte“ sind ebenso unscharfe Begriffe wie z.B. „Region“. Dennoch spricht man von Haus- und Hofsorten, Lokal- und Regionalsorten, tradierten, traditionellen Sorten und Land-Sorten, insgesamt bäuerlich-gärtnerisches lebendiges Kulturgut.
Im Gegensatz zu homogenen, „modernen Zuchtsorten“ sind sie meist heterogen: Landsorten können Arten- und Sorten-Mischungen sein, aber auch Kreuzungen von Sorten und den Ausgangs-Arten beinhalten.
Durch individuelle bäuerliche oder gärtnerische Selektion wird ein sehr dynamischer Prozess begleitet, der innerartliche Vielfalt „spontan“ entstehen lässt, die nicht auf absichtliche Kreuzungen zurückgeht. Erhalter- und Amateursorten tragen ebenfalls zur Vielfalt bei. Letztere beinhalten auch Neuzüchtungen auf der Basis „alter“ Sorten.

Der regelmäßige Nachbau samenfester Gemüsesorten zur Saatgutgewinnung erfolgt heute überwiegend auf den Flächen spezialisierter Erhaltungszucht- und Vermehrungsbetriebe, die nicht unbedingt alle in Deutschland, ja nicht einmal immer in Europa liegen müssen: Seit die Binnen-Grenzen der EU gefallen sind und die Globalisierung alle Lebensbereiche erfasst hat, macht die National- und Kleinstaaterei auch auf diesem Sektor keinen Sinn mehr. Weltweit agierende Firmen hatten die Vermehrung aus wirtschaftlichen Gründen schon früher mindestens teilweise ins Ausland verlagert. Dort sind die klimatischen und die Bodenbedingungen oftmals günstiger, die Ausbeute und Qualität des Saatgutes besser, die Arbeitskräfte billiger und williger.

In Mitteleuropa waren die Sommer vor dem gegenwärtig stattfindenden Klimawandel häufiger feucht und kühl, die Winter schneereich und lang. Eine Stärke der alten, in der Region vermehrten Sorten bestand und besteht eben in ihrer Angepasstheit, also darin, dass ihre Saat auch unter weniger günstigen Bedingungen gut ausreift, vielleicht nicht in jedem Jahr, aber doch so, dass die Vorräte nicht aus-, die Sorten nie ganz verlorengingen.

Als es noch keine spezialisierten Pflanzenzuchtfirmen gab, verwendete jeder Bauer auf seinem Hof die eigenen, selbst gewonnenen oder in der Nachbarschaft eingetauschten Saaten bzw. Jungpflanzen. So entstand eine heute kaum mehr vorstellbare Anzahl kleiner und kleinster Abweichungen innerhalb einer bestimmten Regionalsorte. Man nannte sie bei den Pflanzen Lokalsorten, bei der ebenfalls kaum überschaubaren Zahl an Haustierrassen „Kirchturmschläge“.

In ganz geringem Umfang passiert die Vermehrung und erhaltungszüchterische Bearbeitung auf den Höfen bis heute: In Südbaden, im Hochschwarzwald, wird an wenigen Orten eine großblättrige grüne Gartenmelde statt des „moderneren“ Spinats angebaut und von den Gärtnern selbst vermehrt. In Schwaben, im Stuttgarter Raum, kann man an den Steinkanten extensiv bewirtschafteter Weinberge vereinzelt noch den Eschlauch, auch Wengertgrüa (Weingartengrün) oder Zirgele geheißen finden. Seine zu den hohen kirchlichen Feiertagen Ostern und Weihnachten erscheinenden Blätter sind eine unentbehrliche Zutat für die echten Maultaschen oder Herrgottsbescheißerle, wie man sie mundartlich nennt. Seit der Zeit der Kreuzzüge wächst der Eschlauch dort!

Ihm sehr ähnlich, aber wohl doch etwas Anderes ist der ebenfalls nur vegetativ vermehrbare Lemgoer Lauch, eine Zwiebel-Spezialität aus Nordrhein-Westfalen. In Österreich und in der Schweiz gibt es den beliebten weißen Ribl-Mais mit seinen großen, etwas plump wirkenden, breit-kegeligen Kolben, die die Bauern bis heute nicht gegen die gleichmäßig geformten zylindrischen Kolben moderner Sorten eintauschen mögen.

In Bayern hält sich dank einer Gruppe aktiver Landfrauen auf den armen Sandböden im Dachauer Land seit Jahrhunderten die Bayerische Rübe, eine traditionelle Stoppelrübensorte mit schwarzer Rinde, die man in Saatgutfachgeschäften vergeblich sucht.

In Teltow bei Berlin gibt es einen Verein, der die bereits von Goethe hoch gelobten ‘Teltower Rübchen‘ pflegt, das Brandenburger Pendent zur Bayerischen Rübe.

In Thüringen und im benachbarten Hessen, vor allem aber im Eichsfeld wird sehr selten noch die echte Perlzwiebel angebaut, ein käuflich nicht mehr zu erwerbendes, eng mit dem Porree verwandtes Kulturrelikt, das im Handel längst von chemisch geschälten, dann süß-sauer eingelegten „Silberzwiebeln“ abgelöst wurde, kleinen Küchenzwiebeln. Wohl niemand, der diese Zeilen liest, wird jemals echte Perlzwiebeln gegessen, geschweige denn angepflanzt haben.

In Sachsen-Anhalt, im benachbarten Wendland und weiter bis in den Nordwesten Niedersachsens, bis nach Ostfriesland, haben sich in Ost- wie in Westdeutschland hohe Grün- und Braunkohl-Landsorten gehalten, die es als Handelssaatgut möglicherweise früher niemals gab. Das hat sich erfreulicherweise geändert, denn bei diesen Sorten ist eine Mehrfachnutzung der Pflanzen möglich: Die Blätter werden das ganze Jahr über an Kaninchen und Hühner verfüttert, der Blattschopf im Winter als Gemüse verzehrt, und die verholzenden Sprosse dienen als Zaunlatten oder Dachsparren für kleine Schuppen oder Ställe.

Innerorts gab es gelegentlich Spezialisierungen bei einer Art: Der eine Bauer vermehrte Rote Bete, ein anderer auf weit entfernt liegenden Flächen Mangold, wieder ein anderer Futterrüben. Bei zu dichtem Stand und gleichzeitiger Abblüte würden sich die drei Nutzungsrichtungen kreuzen und in der Küche kaum verwertbare Nachkommen hervorbringen.

Winterharte und einjährige, oft und viel genutzte Gemüse wie Bohnen, Erbsen, Etagen-, Küchen- und Winterheckezwiebeln, Feldsalate, Garten-Melde, Gurke, Knoblauch, Kresse, Kürbisse, Paprika, Salat, Spinat, Tomate und Zuckermais sind einfach nachzubauen und werden daher häufig selbst vermehrt. Entsprechend groß ist die Anzahl erhalten gebliebener Regionalsorten bei diesen Gemüsen.

Von kompliziert zu reinigenden, bei uns schwer zu überwinternden oder hierzulande eher selten verwendeten Gemüsen wie Artischocke und Cardy, Endivie, Fenchel, Hafer- und Schwarzwurzel, Brokkoli, Kohlrabi und Blumenkohl, Mangold und Rübe, Möhre, Pastinake, Porree, Sellerie, Wurzelpetersilie und Zichorie findet man landauf, landab kaum jemals blühende oder fruchtende Samenträger.

Von einigen dieser Arten gibt es außerdem Wild- und Unkrautsippen in der Umgebung oder andere, gleichzeitig blühende Nutzungsgruppen in der Nachbarschaft. Deren mit den Pollen durch Wind und Insekten übertragene unerwünschten Merkmale manifestieren sich in den Kulturpflanzenbeständen und erschweren so die ganze Arbeit oder machen sie gar zunichte.

Bei den vegetativ vermehrten Kartoffeln gibt es Sorten, die sich seit Jahrhunderten in bäuerlicher Erhaltung behaupten, ohne nennenswerte Abbauerscheinungen zu zeigen oder besonders krankheitsanfällig zu sein. Die „Rote Emma vom Vogelsberg“, eine rotschalige, gelbfleischige Kartoffel mit eher überdurchschnittlicher Knollengröße ist so ein Beispiel, ebenso die vielen namenlosen, aus Südamerika stammenden „Indianerkartoffeln“.

Häufig gehören letztere zu einer speziellen Unterart der Kulturkartoffel, die mit aufrechtem Wuchs, vergleichsweise kleiner und weniger dichter Belaubung, auffälligen Blüten- und Knollenfarben, ungewöhnlichen Knollenformen, mit tiefliegenden Augen und interessanten Kocheigenschaften unschwer erkennen lassen, dass sie züchterisch bisher kaum oder nur wenig bearbeitet worden sind. Diese ausgesprochenen Liebhabersorten wurden amtlich nie erfasst und registriert. Daher dürfen sie legal auch nicht gehandelt, allenfalls verschenkt werden. Die gesamte Ernte ist für den Eigenbedarf bestimmt, womit die enge, wechselseitige Bindung von Mensch und Pflanze behördlich vorgeschrieben wird.

Bei Handelssorten ist diese Bindung eher selten zu finden – was kaum verwundert, weil die modernen Sorten vieler Gemüsearten sich rein äußerlich immer ähnlicher werden. Die kurzkegeligen oder runden Karotten gibt es kaum noch zu kaufen, die langen Möhrensorten zu unterscheiden, stellt selbst für Fachleute eine Herausforderung dar. Immerhin kommt neuerdings wieder mehr Farben- und Formenvielfalt auf, so u.a. bei Blumenkohl und Brokkoli, Beta- und Stoppelrüben.

Auf den Märkten sind einzig die „blauen französischen Trüffelkartoffeln“ mit der Sorte ‘Vitelotte‘ als selten gekaufte Exoten legal erhältlich. „Normale“ Handelssorten müssen als Pflanzkartoffeln immer wieder neu zugekauft werden, um gesunde Bestände für die Produktion und für den Verkauf „gewöhnlicher“, also nicht mehr gewöhnungsbedürftiger Konsumkartoffeln zu erzielen.

Doch wie gehen die Züchter bei der Kartoffelzucht vor, wie generieren sie neue Sorten? Abertausende Kreuzungen und Nachkommenschaftsprüfungen sind es Jahr für Jahr, gefolgt von Infektionsversuchen mit Krankheitskeimen und Stresstests. Daran schließen sich Anbauversuche im Freiland an, ehe es für wenige auserkorene Sämlinge zu dem umständlichen und kostspieligen Prozedere der Sortenzulassung, der Vermehrung und der Vermarktung kommt – ein keineswegs starres System, allerdings eines, das mit der Zeit immer komplizierter wird.

Für Laien und Liebhaber wird es wohl immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Indes, beim Anbau im Hausgarten fallen nach dem Absterben des Krautes hin und wieder gelblich-grüne, oft noch harte Beerenfrüchte auf, die kleinen, unreifen Tomaten ähneln. Lässt man sie nachreifen, kann man die daraus gewonnenen Samen im Folgejahr relativ eng und dicht beieinander aussäen und dann erleben, wie sich kleine Kartoffel-Pflänzchen entwickeln, die am Ende ihres ersten Lebensjahres ein recht unscheinbares kleines Knöllchen bilden. Pflanzt man dieses nach frostfreier Überwinterung in handfeuchtem Kies im darauffolgenden Jahr im regulären Abstand, entwickeln sich kräftige, gesunde Kartoffelpflanzen mit normalem Ertrag. Für den Eigenbedarf könnte man das ja einmal probieren, oder?

Durchgesetzt bzw. gehalten hat sich die Pflanzenzüchtung in den Regionen, die für die Saatgutgewinnung aufgrund ihres Klimas und der besonderen Beschaffenheit der Böden am besten geeignet sind, wo engagierte Unternehmer sich auf bestimmte Kulturen und ein begrenztes Sortenspektrum spezialisieren konnten, wo es bis heute Universitäten mit landwirtschaftlichen Fakultäten gibt und wo Agrarforschungszentren mit landwirtschaftlichen Betrieben ausgestattet oder mit diesen langfristige Kooperationen eingegangen sind.

Grundsätzlich zu unterscheiden ist zwischen der privaten und der staatlichen Züchtung und Züchtungsforschung. Profitable Sparten wie die Getreide-, Zuckerrüben-, Futter- und Zierpflanzenzüchtung, aber auch die Gemüse und die Kartoffelzucht sind überwiegend privatwirtschaftlich organisiert, werden aber u.a. von der Ressortforschung des Bundes-Landwirtschaftsministeriums und in der Nähe angesiedelten Forschungseinrichtungen unterstützt. Die weniger profitable, aber nicht minder bedeutsame Forstpflanzenzüchtung, die Obstzüchtung, Zucht und Erhaltung bestimmter Spezialkulturen wie Hopfen, Tabak und Wein liegen im Wesentlichen in staatlicher Hand.

Globale Konzentrationsprozesse führen dazu, dass bestimmte Kulturen hierzulande vernachlässigt, ja sogar aufgegeben werden – wie z.B. die Linsenzucht und der Linsenanbau in Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Letzte Rückzugsgebiete waren neben der Schwäbischen Alb z.B. Süd-Niedersachsen und der Kyffhäuser, den sich die beiden Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt miteinander teilen.

Erst in jüngster Zeit, etwa um das Jahr 2000 herum, kehrte die Linse als Kulturpflanze auf geeignete Ackerflächen in Niedersachsen und in Thüringen zurück, gefördert durch befristete Projekte zur Diversifizierung der Landwirtschaft. Die Finanzierung der Projekte ist ausgelaufen. Sie wurden beendet, der Linsenanbau leider auch. Die Linse verlangt Getreide als Stützfrucht und viel Erfahrung beim Anbau. Wann ist der richtige Aussaat-, wann der ideale Erntezeitpunkt? Bei feuchter Witterung im Herbst ist der Erntezeitpunkt schwer zu ermitteln, sind die Verluste entsprechend hoch.

Bereits 1985 gelang jedoch eine Wiederbelebung des Linsen-Anbaus in Süddeutschland, hier gefördert durch das private Engagement eines (!) im besten Sinne des Wortes sturen, uneinsichtigen Landwirts, der einfach nicht akzeptieren wollte, dass man die Linsen für regionale Gerichte auf dem anonymen Weltmarkt beschaffen muss. Er rief einen Verein ins Leben und holte nicht irgendwelche, sondern schließlich die beiden traditionellen, regionalen Linsensorten aus der russischen Genbank in St. Petersburg zurück in ihre Heimat und rief sodann einen Verein ins Leben, das Genbänkle e.V. – ein Netzwerk für Sortenretter und -erhalter der Nutzpflanzenvielfalt mit Schwerpunkt Baden-Württemberg.

Seit 2007 werden hier also wieder Alb-Linsen vermehrt und großflächig angebaut. Die Anbauer haben wieder einen Blick für „ihre“ Linsen entwickelt und nehmen bereits wahr, dass sie gelegentlich abändern, dass sie „aufspalten“, dass Neues entstehen kann. Wie werden sie damit umgehen? Diese alte Kulturpflanzenart darf auf der Schwäbischen Alb inzwischen erneut als etabliert gelten. Mehr noch, die Alb-Leisa sind mittlerweile ein viel beachteter Wirtschaftsfaktor für die ganze Region geworden und werden sogar weit darüber hinaus erfolgreich vermarktet.

Wir kennen etwas Ähnliches auch von anderen Gemüsepflanzen, die in bestimmten Regionen ihre traditionellen Anbauschwerpunkte haben, weil sie dort besonders gut gedeihen: Genannt seien die Filderhochebene mit ihren spitzen und die norddeutschen, küstennahen Standorte mit ihren runden Krautköpfen. Weitere Beispiele sind der vorzugsweise auf Sandböden angebaute Spargel, bekannt dürften auch die trockenen „Zwiebelgegenden“ sein und die grundwassernahen Gurkenanbaugebiete wie der Spreewald eines ist. Irgendwann in grauer Vorzeit sind die Pflanzen mitgebracht und dort zunächst versuchsweise angebaut worden.

Wahrscheinlich gab es zunächst sogar Widerstände gegen diese Neuerungen und sicher auch Rückschläge. Bei den Kartoffelbefehlen Friedrich II. und ihrer Durchsetzung ist das gut dokumentiert. Immer neue Experimente zur Kulturführung, zur Optimierung der Anbaubedingungen ließen unser heutiges Know-How entstehen. Nach der Phase der Etablierung folgt die Ausdehnung der Kultur, und es kommen immer mehr, immer ausgefallenere Sorten ins Spiel.

Sofern es sich um keine Grundnahrungsmittel handelt und billige Importe den Anbau nicht wirtschaftlich uninteressant werden lassen, ist es möglich, dass Traditionen entstehen, kann Kontinuität im Anbau erreicht werden. Ist das nicht der Fall, nehmen die Flächen ab, auf denen die entsprechenden Pflanzen angebaut werden, die Sorten verschwinden von der Bildoberfläche der Märkte. Sorten, mitunter auch Arten werden durch andere abgelöst. Niemand wünscht sich in die Zeit zurück, in der Hirsebrei das „täglich Brot“ darstellte. Nachfragen verstummen bald, ein sich selbst verstärkender Prozess nimmt seinen Lauf.

Wie wir am Beispiel der Linse gesehen haben, bestehen nur rund 35 Jahre, nachdem eine Kultur erloschen ist, weil sie aufgegeben wurde, kaum noch reale Chancen, sie wiederzubeleben. Es sind 35 Linsengenerationen, die einer menschlichen Generation gegenüberstehen. Diese Zeitspanne genügt bereits, jahrhundertealtes, kontinuierlich praktiziertes Erfahrungswissen vollständig in Vergessenheit geraten zu lassen.

Fassen wir noch einmal zusammen: Die Entstehung einer von der bestehenden Sorte abweichenden Pflanze, sei es durch spontane Mutation oder durch Kreuzung und Auslese, ist ein singuläres, selbstredend ortsgebundenes Ereignis. Was an dem betreffenden Ort aus dem Abweichler wird, liegt in der Hand des Menschen, der diese Abänderung bemerkt – oder eben auch nicht. Wird sie verworfen oder aufgegessen, wird sie in genau dieser Kombination wohl kein zweites Mal entstehen. Bleibt sie in einem Saatgutbestand unentdeckt, fließen ihre Merkmale unterschwellig in die ganze Population ein, verändern sie geringfügig, kaum merklich.

Wird die Neukombination für so wertvoll erachtet, dass sie als eigene Selektion weitergeführt wird, ist bald eine Lokalsorte entstanden, die zunächst wohl nur auf einem Hof zu finden sein wird. Erregt diese eine besondere Lokalsorte dann jedoch die Aufmerksamkeit, das Interesse mehrerer Anbauer, ist der Weg frei zur Entstehung einer Regionalsorte, die ihrerseits wieder Mutter eines ganzen Formenschwarms werden kann und dabei andere, bisher angebaute Sorten der gleichen Art verdrängt oder in ihnen aufgeht, bis sie dasselbe Schicksal ereilt, bis sie selbst von neueren, interessanteren Sorten abgelöst wird. Inzwischen ist auch ein Großteil der regionalen Züchter verschwunden oder aufgekauft worden. Neben den Lokal- und Regionalsorten gehen durch diese Konzentrationsprozesse auch Zuchtsorten unwiederbringlich verloren.

Die Bewahrung der Sortenvielfalt ist daran gebunden, dass wir Menschen die Daseinsberechtigung unterschiedlicher Sorten nicht nur erkennen, sondern sie bewusst nachfragen, im Alltag verwenden und für ihre Erhaltung sorgen.

tg 2020-06-10

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